DIALOG ÜBER WISSENSTHEORIE

Marco C. Bettoni (m.bettoni@fhbb.ch), Robert Ottiger (ottiger@swissonline.ch), Rolf Todesco (todesco@compuserve.com)

1. Teil (Gespräch A, Replik von Glasersfeld und Gespräch B) -   Fortsetzung

Gespräch A und Replik Ernst von Glasersfelds veröffentlicht in:
Ethik und Sozialwissenschaften (EuS), 9 (1998) 4, S. 511-513 und S. 582-583.


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1. Teil - Gespräch A

((1)) [Vor den Toren Athens, auf dem Weg nach Megara]

ROBERT: O lieber Rolf, woher denn und wohin1 ?
ROLF: Vom Marktplatz, o Robert, und ich gehe lustwandeln hinaus vor die Stadt mit diesem Fremden.
ROBERT: Ganz gut tust du daran, lieber Freund. Und du, willkommen unter uns, Fremder. Woher kommst du, und wie heisst du?
FREMDER: Ich heisse Marco, komme aus Abdera, und bin ein Freund derer, die sich zu Ernst von Glasersfeld und Silvio Ceccato halten.
ROBERT: Was habt ihr denn nun vor?
ROLF: Du sollst es erfahren, wenn du Musse hast, mitzugehen und mitzureden.

[Sie gehen zu dritt weiter]

ROBERT: So redet nun.
ROLF: ((2)) Wir sprachen soeben über Ernst von Glasersfelds kurze Zusammenfassung seiner Radikal-Konstruktivistischen Wissenstheorie2. Von unserem Fremden der seit 13 Jahren mit ihm befreundet ist möchte ich gern vernehmen wie er diesen Text verstanden hat. Mir ist nämlich vorerst vieles unklar geblieben, am allermeisten was mentale Operationen sind.
FREMDER: ((3)) Dein Wunsch freut mich sehr, o Rolf, denn unter den 4 Quellgebieten aus denen Ernst von Glasersfelds Denken erwuchs ((3)), ist jenes der Analyse mentaler Operationen dasjenige, welches ihn am engsten mit seinem (und meinem) kürzlich verstorbenen Freund und Meister Silvio Ceccato verbindet ((46)). Weiter sind EvGs Begriffsanalysen ((43-56)) vorzüglich dazu geeignet, eine fundamentale Lücke in Maturanas Biologie der Kognition3 zu füllen: die Entwicklung von generativen Mechanismen, deren Operieren Unterscheidungen hervorbringt. So wie ich den Text verstehe, betrachtet EvG mentale Operationen als Handlungen auf der BEGRIFFLICHEN Ebene (bzw. im begrifflichen Bereich auf der Ebene der kognitiven Funktionen) welche, zusammen mit physischen Handlungen auf der SENSOMOTORISCHEN Ebene (bzw. im sensomotorischen Bereich auf der Ebene der physischen Funktionen) alles Wissen hervorbringen ((44)). Dabei versteht er Wissen nicht als enzyklopädisches Archiv, sondern durchaus dynamisch, nämlich als "Repertoire von Handlungen und Operationen" ((57)). Er präzisiert weiter, dass "mentale Operationen uns in unserer täglichen Erfahrung Begriffsstrukturen liefern" ((45)) und beschreibt als Beispiele die mentalen Operationen der Begriffe Mehrzahl ((43)), Objektpermanenz ((45)), Identität ((45-47)), Änderung ((52)), Dauer und Ausdehnung ((54)).
ROLF: ((4)) Du siehst, lieber Robert, unser Freund aus der Fremde ist sich der Sache so gut bewusst, dass er sie noch mehr zusammenfassen kann. Wir aber, die wir den Anschluss an die Schule der italienischen Operationalisten noch nicht haben, müssen wohl hartnäckig fragen, bis auch wir klarer sehen. Oder sind diese Redeweisen in Deinen Ohren bereits viabel.
ROBERT: ((5)) Zunächst bin ich dankbar für die zusammenfassenden Äusserungen unseres Freundes auf Deine so gewichtige Frage, lieber Rolf. Dann bleibt auch mir in dieser Rede vieles unklar, doch der rechte Weg zur Klarheit scheint mir ungewiss. Hartnäckiges Fragen ist nicht meine Sache, dies überlasse ich gerne Dir. Ich kann die Redeweise, mentale Operationen könnten analysiert werden, nicht so auffassen, als ob es so etwas wie mentale Operationen tatsächlich gäbe. Was es für mich gibt, sind unsere Äusserungen. Der Ausdruck Operation für sich genommen und als formaler Begriff betrachtet, gehört zu meinem Wortgebrauch. Für mich, der ich nicht weiss, was das Mentale ist, bleibt aber unerhört, dass eine Operation mental sein kann. Da helfen mir auch die Ersatzreden nicht, wie beispielsweise die, mentale Operationen könnten als Handlungen auf der begrifflichen Ebene betrachtet werden. Zwar ist mir der Ausdruck Handlung so vertraut, wie der des Begriffs oder der Ebene, doch wozu die Äusserung begriffliche Ebene passt, ist mir schleierhaft. Was fragen wir unseren Freund?
ROLF: ((6)) Die Fragen - scheint mir - sind nach Deiner Rede gestellt. Ich bin sehr gespannt, wie unser Freund aus Thrakien im von uns vorgeschlagenen Sprachspiel operiert.
FREMDER: O Rolf, eine gewisse Scham ergreift mich doch, dass ich, zum ersten Male unter euch, bereits über derart grundlegenden Fragen, wie sie Robert formuliert hat - die einer gar langen Auseinandersetzung bedürfen - mich ausbreitend reden darf.
ROBERT Tu also so, o Fremdling, und du wirst, wie Sokrates sagte, "allen gefällig sein".
FREMDER ((7)) Zunächst möchte ich hervorheben, dass EvG seinen Ansatz als Denkmodell versteht ((64)). Genauso wie er, betrachte auch ich alles was ich hier sage nicht als Beschreibung einer realen Welt, nicht als Behauptung über das "Sein" oder die "Essenz" von etwas, sondern lediglich als geordnetes, kohärentes und konsistentes System von Begriffen. Deshalb kann ich die Fragen "Was ist das Mentale?" und "Kann eine Operation mental sein?" so nicht beantworten, wohl aber in der abgewandelten Formulierung "Was betrachtest du als das Mentale?" und "Was betrachtest du als mentale Operationen?". Sollen wir uns also auf diese veränderte Form der Fragen einigen oder hast du, o Robert, andere, besser passende Formulierungen für deine Fragen?
ROBERT Die habe ich nicht.
FREMDER ((8)) Wohlan denn, schreiten wir also gemeinschaftlich zur Untersuchung. Wir Menschen können wahrnehmen (sehen, hören, riechen, schmecken, usw.), merken, denken, erinnern, vorstellen, und vieles derartiges mehr. Manchmal ist es praktisch all diese Tätigkeiten von den physischen und affektiven Tätigkeiten zu unterscheiden, und sie alle zusammen einer gedachten Einheit als ihre Funktionen zuzuordnen. Diese Funktionseinheit (System oder Teilsystem) nenne ich dann lateinisch "mens", Italiensch "mente", auf englisch "mind" und alles, was ich mit dieser Einheit verbinde, bezeichne ich mit "mental". Mentale Operationen sind also für mich die Operationen der gedachten Funktionseinheit "mente". Deutsch und (sinngemäss französisch) kann "mente" nur mit etwas wie "kognitives System" übersetzt werden; wir sprechen deshalb häufig von kognitiven Operationen wo wir mentale meinen. Ich gebe zu, das die Redeweise von den Ebenen keine weitere Erkenntnis bringt, sondern nur der Anschaulichkeit dient - was sich bei eurer lobenswerten Pedanterie gar als kontraproduktiv erweist.
ROBERT ((9)) Es bliebe dann noch zu klären, was EvG unter "begrifflich" versteht bzw. wie er "begrifflich" und "mental" unterscheidet.
ROLF ((10)) Lass mich zuerst etwas sagen: Einiges sehe ich nun dank der Rede unseres Freundes in ganz neuem Licht. In der naiven Annahme, der Ausdruck "Konstruktivismus" sei Omen nicht nur Nomen, dachte ich irrigerweise immer, hier sei von materiell konstruierbaren Systemen die Rede. Nun komme ich aber nicht mehr umhin festzustellen, dass EvG offenbar ganz in der Tradition der Artificial Intelligence von funktional differenzierten oder, wie unser Freund aus Thrakien sagt, von (aus-)gedachten Systemen spricht. Operationen werden dabei mittels einer gedachten Blackbox "erklärt", während es in den konstruktiven Wissenschaften ja gerade darum geht, Maschinen zu konstruieren, die das Verhalten einer Blackbox erklären. Klärungsbedürftig sind meiner Vorstellung nach nicht die "mentalen" Operationen, sondern Konstruktionen, die solche Operationen ausführen können. Ich erinnere mich dabei, dass Robert über die Redeweise "Erzeugen von Phänomenen" schon ganz sinnvoll nachgedacht hat. Vielleicht sollte er seine Erkenntnisse hier anfügen, bevor wir weiterfahren?
FREMDER Das wäre ja vortrefflich. Also, o lieber Robert, bescheide uns nicht abschlägig, da wir eben diese Gunst von dir erbitten.
ROBERT ((11)) Ich weiss nicht genau, worauf Rolf hinaus will. Ich erinnere mich lediglich an ein Gespräch über eine uns wohl vertraute Stelle des Konstruktivisten Maturana, der da sagt, "... dass jeglicher Versuch, ein Phänomen wissenschaftlich zu erklären, in der Tat darin bestehen muss(te), einen Mechanismus zu entwickeln, der das zu erklärende Phänomen erzeugt(e)"4. Diese Äusserung scheint zunächst mit dem von Rolf Gesagten übereinzustimmen, nämlich, dass nicht Operationen, sondern Konstruktionen oder - in der Redeweise Maturanas - Mechanismen als Erklärungen dienen. Nun wissen wir, dass Maturana als Biologe sich nicht mit artefaktischen Mechanismen, sondern mit natürlichen Organismen beschäftigt. Dies zeigt sich auch in seinem Wortgebrauch, denn er will einen Mechanismus entwickeln, der ein "Phänomen erzeugt". Ein Artefakt aber, erzeugt keine Phänomene, wenn „Phänomen" erfahrene Wahrnehmung bedeutet. Wir sind es, die Phänomene erzeugen, wobei der Ausdruck "erzeugen" sehr genau passt, weil er auf das natürliche, nicht-artifizielle jeder Zeugung verweist. Wir aber können unsere Phänomene, genauso wie unsere Kinder nur mit ausgedachten Mechanismen (er-)zeugen, und es wird uns nie gelingen, dafür echte Erklärungen im Sinne von konstruierten, also trivialen Maschinen zu haben.
FREMDER ((12)) O liebe Freunde, eure Rede klingt sehr subtil und durchdacht, aber ich für mich sehe vieles ganz anders. So wie ich den Text von EvG verstehe, geht es der Radikal-Konstruktivistischen Wissenstheorie darum, Wissen als „interne Konstruktion" aufzufassen ((1)) sowie brauchbare Modelle der Vorgänge (der Mechanismen) des internen Konstruierens von Begriffen zu entwickeln ((56)) und nicht darum diese Wissensmodelle als materielle Konstruktionen zu bauen oder "Operationen mittels einer Blackbox zu erklären". Die Blackbox "kognitives System" dient nicht dazu, Operationen des Konstruierens zu "erklären" sondern umgekehrt: die von EvG beschriebene Vorgänge (mentale Operationsfolgen) des internen Konstruierens von Begriffen sind Erklärungen (der Arbeitsweise) des „kognitiven Systems". Erklärungsbedürftig sind also zuerst Begriffe - und somit Wortbedeutungen ((56)) - und diese werden in EvGs "Begriffsanalyse" ((43-56)) mit generativen Mechanismen erklärt, deren Operieren die zu erklärenden Phänomene - nämlich jene formalen Begriffe, "die nicht direkt aus Elementen der Wahrnehmung gewonnen werden können" ((43)) - erzeugen. In diesem Sinne ist z.B. der von EvG entwickelte Mechanismus der Mehrzahl eine Erklärung für den formalen Begriff „Mehrzahl" ((43)): erst durch die mentalen Operationen der Mehrzahl werden Dinge für uns mehrzahlig, so wie erst durch die mentalen Operationen des Schönen die - für uns - schönen Dinge schön werden5. So kann die Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie mit Maturanas naturwissenschaftlichen Theorie des Wissens mühelos kombiniert werden und dabei eine fundamentale Lücke füllen, nämlich erklären, wie der Beobachter seine „Unterscheidungen" (z.B. etwas als Mehrzahl zu betrachten) macht. Erst nachdem Begriffe als generative Mechanismen entwickelt worden sind, verfügen wir über Erklärungen des Verhaltens der Blackbox "kognitives System": Deshalb ist eine Begriffsanalyse, wie sie EvG vorschlägt, die Voraussetzung dafür, dass "konstruktive Wissenschaften ... Maschinen konstruieren" können, "die das Verhalten der Blackbox erklären", wie Rolf sagte. Um eine Maschine oder ein Organ zu bauen oder zu analysieren, muss nämlich immer zuerst die Funktion (der Funktionsbaum der generativen Mechanismen) spezifiziert werden. Da ist nun aber etwas, worüber ich zweifelhaft bin und was ich im Text von EvG nicht hinreichend ergründet finde: diese generativen Mechanismen - Operationsweisen ((46)) - deren Operieren die Begriffe erzeugen, wie weit (wie detailliert, wie umfassend) sollen und können wir sie entwickeln, bevor wir damit anfangen, sie in einem Artefakt zu realisieren?
ROLF ((13)) Beim Zeus, o Fremder, deine Frage und deine vorangehende Rede wundern mich sehr! Wo wollt ihr nun, dass wir uns setzen, um darüber weiter zu reden?
ROBERT Hier, lass uns ablenkend am Ilissos hinutergehen und dann, wo es uns gefallen wird, uns einsam niedersetzen.
[Sie verlassen die Hauptstrasse nach Megara, gehen dem Ilissos entlang und legen sich auf dem Rasen unter einer grossen Platane nieder]
FREMDER Bei der Here! Dies ist ein schöner Aufenthalt. Denn die Platane selbst ist prächtig belaubt und hoch und des Gesträuches Höhe und Umschattung gar schön, und so steht es in voller Blüte, dass es den Ort mit Wohlgeruch ganz erfüllt. Doch, o liebe Freunde, warum schweigt ihr nun?
[Teil 1 => Replik Ernst von Glasersfelds]
Teil 1 - Gespräch B
ROBERT Ich weiss nicht recht, wo ich einsetzen soll und so erlebe ich, was Du Schweigen nennst, als Zweifeln. Du siehst in der Tat vieles ganz anders. Mir scheint es nun aber dringend, nicht das Viele sondern das Eine zu klären, beispielsweise was Begriffe sind. Das Beispiel fällt uns zu, nicht nur, weil Du, o Fremder, in deiner Rede darauf zielst, sondern auch, weil dein Freund Ernst von Glasersfeld, den ich seit kurzem auch zu meinen Bekannten zählen darf, mir in einem Briefwechsel schrieb:
[Er zieht einen Brief aus der Tasche und zitiert:]
Sie verwenden das Wort "Begriff" anders, als ich es gewohnt bin. Wenn Sie sagen, "jeder Begriff steht für die Definition eines Gegenstandes", würde ich sagen, der Begriff ist der Gegenstand. Ich meine das in dem Sinn, daß der Begriff die "verkörperte Erfahrung" ist, an die das damit assoziierte Wort uns erinnert. Somit haben Wörter die Fähigkeit, Vorstellungen von verkörperten Erfahrungen hervorzurufen, und diese verkörperten Erfahrungen sind eben das, was ich Bedeutung nenne.

Nehmt es mir nicht übel, aber eben jetzt, da ich diese Stelle zitiere, setzt mein Zweifeln wieder ein. Ist es nicht endlos? Wenn ich wissen will, was für mein Gegenüber ein Begriff ist, muss ich mir klar darüber werden, was eine Definition, was ein Gegenstand, was Erfahrung, was Bedeutung ist. Am Ende habe ich mein Begriffslexikon und mein Gegenüber hat seines und die Chance, dass wir uns je verstehen werden, sinkt mit zunehmender Komplexität. Was bleibt ist tatsächlich Schweigen oder die Sprache als Spiel zu betreiben.
FREMDER Es ist nicht leicht, Robert, Dich nicht zu loben! Dein Gedankengang scheint mir folgerichtig und bewundernswert: er erinnert mich sehr an die Logik mit der Sokrates und Theaitetos kürzlich - in einem Gespräch über Erkenntnis und Wissen - einen Traum diskutierten6. Allein, was Du jetzt gesagt hast, das besieh Dir doch noch einmal unter Zuhilfenahme der Tecnica Operativa. Zu der Alternative auf die Du hinweist ("Schweigen" oder "Spiel") kommt Dein Gedankengang notwendigerweise, wie Du es uns vortrefflich zeigst. Dieselbe Notwendigkeit kommt auch im scharfsinnigen Gespräch zwischen Sokrates und Theaitetos vor, und führt dort zum Scheitern aller Versuche, Erkenntnis und Wissen zu erklären. Aber diese Notwendigkeit gilt nur im Kontext einer Suche nach dem "Sein", nach der "Essenz", wie sie in den Fragen: was "ist" ein Begriff, was "ist" eine Definiton, was "ist" ein Gegenstand, usw. zum Ausdruck kommt.
Versuchen wir es doch einmal, vortreffliche Freunde, die Metodologia Operativa als Kontext zu nehmen. In diesem Kontext frage ich dann nicht "was für mein Gegenüber ein Begriff ist" sondern "welche mentale Operationen führt mein Gegenüber aus, wenn er das Wort 'Begriff' verwendet" ? Es geht darum einen generativen Mechanismus zu finden, der, wenn mein Gegenüber ihn operieren lässt, dasjenige hervorbringt, was er mit dem Wort "Begriff" benennt. In einem solchen Kontext ist das Wesen der Erklärung nicht "Verflechtung von Namen" - wie Sokrates im erwähnten Gespräch behauptet - sondern "Verflechtung von konstitutiven Operationen", oder anders ausgedrückt, ein generativer Mechanismus (bestehend aus mentalen Operationen) der das zu Erklärende hervorbringt.
ROLF Gerne, lieber Freund, sehr gerne will ich mit Euch zusammen bedenken, was Deine Auffassung von mentalen Operationen uns nützen kann. Zuerst lass mich aber noch noch ganz entschieden zurückweisen, problematisieren und unterstützen - also aufheben, auf dass wir später darauf zurückkommen - was Robert als Schlussfolgerung vorgetragen hat. Was er nämlich sagte, lässt ihn nur verzweifeln, weil er es eben auf diese bestimmte Weise sagte. Ich will es deshalb nochmals sagen, aber dabei von einem andern Ort her schauen. Da es im Sprachspiel gerade nicht darum geht, die andern zu verstehen, ist es überhaupt kein Problem, wenn die andern die Wörter ganz anders brauchen als ich. Die Frage ist vielmehr, wie ich welche Wörter brauche, und zwar die gehörten ebenso wie die gesprochenen. Wenn also in meinem Lexikon steht: "Ein Begriff ist ein Ausdruck, der für eine Definition steht", dann bedeutet das keineswegs wie Marco unterstellt, eine Aussage über etwas Ontisches, Seiendes, sondern ist eine Beschreibung davon, wie ich innerhalb des Sprachspiels operiere, resp welche Wörter ich durch welche ersetze. Beschrieben wird dabei allerdings ein ganz anderes Operieren als das was Marco als mentale Operationen vorschlägt. Wir können also nach belieben in zwei ganz verschiedene Richtungen voranschreiten - und anders als beim Weg, den wir zu Fusse gehen, müssen wir uns nicht für den einen entscheiden.
[Das einen Moment lang herrschende Schweigen oder Zweifeln ausnutzend ...]
ROLF Lasst mich noch etwas anfügen: Ich würde gerne Eure Vorschläge aufgreifen. Marco schlug vor, dass wir uns in der operationalen Methode versuchen und Röbi schlug vor, dass wird den Begriff "Begriff" klären sollten. Und genau das sollten wir nun in einem verfolgen: Wir wollen - wen Ihr diesem Ansinnen auch etwas abgewinnen könnt - uns überlegen, welche mentalen Operationen für den Begriff "Begriff" zuständig sind. Bislang habe ich nämlich mentale Operationen nur immer an Laborbeispielen aus formalen Wissenschaften erläutert bekommen.
FREMDER Wahrlich, beim Hunde, das dünkt mich ein gar anspruchsvoller Vorschlag zu sein, Freund!
[Wie wenn ein Reisender in  einem dichten Wald plötzlich des Weges unsicher wird und seine Wanderkarte konsultiert, so holt der Fremde aus seiner Kleidung ein Taschenbuch hervor, blättert eifrig darin und liest hoffnungsvoll eine Zeit lang; dann aber legt er das Buch enttäuscht auf dem Rasen nieder]
FREMDER Indes, da ich nun einmal die Löwenhaut umgetan habe, darf ich ja keine Furcht zeigen, sondern muss zusehen, wie es um die mentalen Operationen von "Begriff" steht. Ich weiss zwar nicht, wie es sich eigentlich mit dieser Sache verhält. Gemeinschaftlich jedoch, mit dir und mit Robert sie zu untersuchen bin ich gern bereit. Hört also einen Traum, in dem ein Weg angedeutet wird, wie mentale Operationen - jene von "Begriff" und alle anderen - ermittelt werden könnten.
[Traum des Fremden von einer 'genetischen Methodologie' zur Bestimmung der mentalen Operationen]
FREMDER Mich nämlich dünkt, dass ich von einigen gehört habe, dass ein Wort - wie auch Ernst von Glasersfeld an Robert schrieb - immer mit einer "verkörperten Erfahrung" assoziert sei und die Beziehung zwischen den zwei nannten sie "semantische Beziehung". Das Wort diene dazu, diese Erfahrung an die Öffentlichkeit zu bringen, sie 'public' zu machen, und stehe also in der Öffentlichkeit als Stellvertreter für jene Erfahrung da. Wörter ohne assoziierte Erfahrung seien leer, sagten sie, und verkörperte Erfahrungen ohne assoziierte Wörter stumm.
Wenn jemand mit einem 1-jährigen Kind ein Bilderbuch lese, dann könne er z.B. auf die Bilder zeigen und sie benennen, z.B. "Pferd". Dies sei dann für das Kind eine Gelegenheit das Wort "Pferd" mit dem was es in dem Moment mental tut (erfährt, erlebt) zu verknüpfen, d.h. eine vollständige semantische Beziehung aufzubauen: 1. Wort, 2. verkörperte Erfahrung, 3. Verknüpfung des Wortes mit der Erfahrung.
Immer zielsicherer werde das Kind in der Zukunft das Wort "Pferd" mit anderen verkörperten Erfahrungen verknüpfen können, d.h. andere Tiere (nicht Möbeln, nicht Personen, nicht Fahrzeuge), sei es in Kinderlexika (z.B. Zeichnungen echter Pferde), auf Märchen- und Mythen-Bücher (z.B. Bilder des Pegasus) oder auf dem Bauernhof im Pferdestall, als "Pferd" bezeichnen. Nach und nach könnten also Kinder oder Erwachsene aus verkörperten Erfahrungen (genauer: aus den mentalen Operationen die Erfahrungselemente zu verkörperten Erfahrungen synthetisieren) etwas aufbauen, was als "Begriff des Pferdes" bezeichnet werden könnte. Dies sei die blosse Wirkung einer - wie Kant kürzlich schrieb (B 103) - 'blinden obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnisse (gedankliche Inhalte) haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewusst sind'.
Diese 'blinde Funktion' würde jene erfahrungsspezifischen mentalen Operationen (z.B. ein bestimmtes Pferd-Bild auf einem bestimmten Plastik-Kinderbuch) zum Aufbau einer erfahrungsunabhängigen Regel (Methode, Schema, Prozedur, generativer Mechanismus) nutzen, welche dann bei neuen Erfahrungen (z.B. ein bestimmtes Pferd im Stall des nahen Bauernhofs) angewendet werden könne. Die mentalen Operationen, welche den Begriff "Pferd" konstituieren, sind dann nichts anderes als die Schritte der Prozedur "Pferd". Wichtig sei nun, dass dasselbe auch für die mentalen Operationen formaler Begriffe (jene ohne sensorische Eindrücke) wie z.B. "Begriff" gelte. Um die mentalen Operationen von "Begriff" zu finden, müssten demzufolge die erfahrungsspezifischen Operationen beschrieben werden, die wir ausführen, wenn wir eine verkörperte Erfahrung "Begriff" machen, und aus diesen Beschreibungen liessen sich dann auch jene erfahrungsunabhängigen Operationen entwickeln, die unser Verstand von sich aus mache, wenn er uns die Regel "Begriff" liefere.
ROLF Lass mich Dich etwas fragen: Was hofftest Du in einem Buch zu unserer Sache zu finden? Müsste das nicht ein ganz wunderbares Buch sein, das schon Antworten gibt, auf Fragen die wir erst jetzt stellen?
Und Fragen stellen sich mir dank Deinen Erklärungen immer mehr. Wie, liebe Freunde, könnte ich feststellen, was ein kleines Kind beim Anschauen von Pferden in Büchern und auf Bauernhöfen Mentales tut? Was kann ich angesichts dieses Kindes mehr feststellen, als dass es von Pferden spricht, wo ich es auch tun würde? Oder in den bereits verwendeten Worten: Wie kann ich feststellen, dass die Worte des Kindes nicht leer sind, während die Erfahrungen des Kindes gleichzeitig stumm bleiben?
Aber immerhin könnten wir versuchen, uns mit uns zu beschäftigen. Wenn ich sage, dass ein Pferd ein Tier mit Huf und Mähne ist, dann zeige ich, dass ich begriffen habe, in welchen Kon-Texten ich den Ausdruck "Pferd" verwende. Wie bereits gesagt, ist "Pferd" dann für mich ein Begriff, weil der Ausdruck "Pferd" für eine dem Ausdruck äquivalente Definition steht. Nun scheint es mir ganz einfach, zu begreifen, was ein Pferd (für mich) ist, es scheint mir aber unvorstellbar kompliziert zu begreifen, wie ich das Begreifen mache.
FREMDER Das Buch in dem ich zu unserer Sache etwas zu finden hoffte war Ceccatos kurze Einführung in seiner operativen Linguistik7, ein gar unwahrscheinliches Buch, das leider vom internationalen Forschungs-Establishment (schon wegen der ungenügenden Fremdsprachkenntnisse der Forscher) ignoriert wird.
Das kindliche Denken ist für mich deshalb so interessant, weil sich vermutlich beim Kind jene unvermeidliche Gewohnheit noch nicht festgesetzt hat, welche Erwachsene zur Illusion führt, dass das was sie mental tun (die logische Ordnung und die Regelmässigkeit im Denken) die Essenz, das Wesen der  Realität abbilde.
Wir können aber gerne bei den Erwachsenen bleiben und uns mit uns beschäftigen. Ich denke, dass Definitionen kaum helfen über Begriffe Klarheit zu schaffen. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Frustration in der Schule wenn das Lexikon behandelt wurde. Von Wörtern die zu meinem Repertoire gehörten musste ich die Definition geben: ich verstand die Wörter sehr gut, wusste auch gut mit ihnen umzugehen, aber eine Definition konnte ich nur durch Abschreiben aus dem Wörterbuch geben. Diese Wörterbuch-Definition war aber für mich immer sehr unbefridigend. Als ich fast 20 Jahre später bei Ceccato las, dass das was ein Wort bezeichnet - ein mentaler Inhalt - als Sequenz mentaler Operationen verstanden werden sollte, wurden mir meine Schul- (& Hochschul-) Frustrationen blitzartig klar. Denn daraus folgte unmittelbar, dass die Erklärung eines jeden mentalen Inhalts darin bestehen müsste, die mentalen Operationen welche diesen Inhalt hervorbringen, zu beschreiben. Und dies ist kaum in den Wörterbuch- oder Fachbuch-Definitionen enthalten! Die Schule hatte mir also Begriffe durch Definitionen lehren wollen, während Begriffe durch Operationen erklärt werden sollten.
Um das Beispiel mit dem "Pferd" wieder aufzugreifen: den Begriff "Pferd" zu erklären heisst für mich, dass ich die Operationen beschreiben sollte, die ich ausführe wenn ich das Wort "Pferd" benutze. Und diese Operationen kann ich finden, wenn ich die damit zusammenhängenden verkörperten Erfahrungen analysiere. Klar ist so etwas "unvorstellbar kompliziert": aber ich sehe darin die Chance eines Quantensprungs in unseren Bemühungen, Wissen zu verstehen und Kants Frage "Was kann ich wissen ?" zu beantworten.
Dagegen, sich bei der Erklärung eines Begriffs auf 'eine dem Ausdruck äquivalente Definition' zu beschränken bringt nicht weiter und ist sogar Ursache von Frustration.
ROBERT Es beruhigt mich, dass unser Reden nicht zum gegenseitigen Verständnis führen muss und ich sehe zweifelsfrei klarer. Auch dem Versuch, uns mit uns selbst zu beschäftigen stimme ich zu in der Gewissheit, eh nichts anderes zu vermögen. Wir können gar nicht umhin durch unsere Äusserungen nicht uns selbst zu begreifen, selbst wenn wir über unsere Kinder und ihre vermeintliche Liebliengstiere reden. Wer sich äussert, äussert sich. Natürlich sind wir geneigt die Sache so zu sehen, dass sich äussert, wer sich (er)innert. Und so höre ich denn in den Worten Marcos vor allem den Drang, die verkörperte Erfahrung respektive das Verfahren dazu, die natürlichen, mentalen Operationen zu erklären, ganz im oben erwähnten, erzeugenden Sinne Maturanas. Es ist wie ehedem: Hier der lockende, sirenenhafte Quantensprung, dort der abschreckende Strudel unvorstellbarer Kompliziertheit. Das Begreifen der Äusserungen aber liegt im Interesse und ich wähne uns schon auf dem profanen Weg, wo Frustriertheit allenfalls ein Zeichen sein kann, die Sichtweise zu ändern. Es könnte druchaus sein, dass uns der einfache aber geäusserte Ersetzungsmechanismus, den wir mit der Definition eines Begriffs ansprechen - konkret: wir ersetzen den Ausdruck "Pferd" mit dem Ausdruck "ein Tier mit Huf und Mähne" - insbesondere dann, wenn wir dafür eine Erklärung (im eigentlichen Sinne Maturanas) haben, auf unserer (gem)einsamen Reise stärken könnte. Oder täusche ich mich?

Fortsetzung

Anmerkungen und Literatur

1 Ich danke Friedrich Schleiermacher für seine einfühlsame Übersetzung der Platonischen Dialoge, aus denen ich einige Wendungen des täglichen Lebens ("die Quelle all unserer Erfahrungen", Maturana, 1998) übernommen habe.

2 Ernst von Glasersfeld, Die Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie, Ethik und Sozialwissenschaften (EuS) 9 (1998) 4, S. 503-511

3 H.R. Maturana, Biologie der Realität, Suhrkamp, Frankfurt a/M, 1998.

4 H.R.Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1985, S. 16.

5 M.C.Bettoni, Fedone 1991, Working Papers Nr. 20, 31.5.1991, S. 7, SCMO, Milano.

6 Platon, Theaitetos, 201 d (Traum des Sokrates von einer Theorie über das Erklärbare und das Unerklärbare).

  ©1998, Marco C. Bettoni, FHBB - 11.01.99 - 08.11.01